Dieses Mal habe ich eine Buchempfehlung von meiner Partnerin Christiane Pape für dich:
„The Fishermen“ von Chigozie Obioma, USA 2015
Deutsch: „Der dunkle Fluss“, Aufbau Verlag, 2016
Warnung: Dieses Buch ist die Geschichte der Zerstörung einer Familie im Heimatland des Autors, im Nigeria der 90er Jahre, und es ist extrem gewalttätig.
Eine Einführung
Chigozie Obioma ist 1986 in Akure, einer Stadt im Südwesten von Nigeria, geboren. Er hat an Universitäten in Zypern und in den USA studiert.
Zurzeit lebt er in den USA und lehrt kreatives Schreiben.
Sein erster Roman hat sofort bei seinem Erscheinen einen enormen Erfolg ausgelöst und wurde international beachtet. Sein Buch ist in über 20 Sprachen übersetzt worden.
In der englischen Originalsprache, in der ich den Roman gelesen habe, erscheint als Einführung ein Igbo-Sprichwort – die Igbo sind eine bedeutende Ethnie Nigerias – und ein Gedicht des südafrikanischen Autors Mazini Kunede, das die Kraft der Prophezeiung und die Tragödie, die daraus folgt, andeutet.
Beide Zitate scheinen sich zu widersprechen und werden erst durch das Lesen des Buches erklärbar. Sie nehmen Momente, Zustände und die Personen, die in der Geschichte die Hauptakteure sind, vorweg:
Die Kinder, der Verrückte, der Wahnsinn, die Gewalt
Für uns als Leserin, als Leser, die oder der vielleicht afrikanische und speziell nigerianische Kultur nicht oder wenig kennt, wirkt das wie eine Vorbereitung auf eine Welt, die sich uns als eine neue, unbekannte eröffnen wird.
Auf deutsch erschien der Roman unter dem Titel „Der dunkle Fluss“.
Passend zum veränderten deutschen Titel steht am Anfang der Ausgabe anstatt dem Gedicht ein Igbo-Kinderreim, der sich auf den deutschen Titel, den Fluss, bezieht.
Vielleicht wollten der Übersetzer Nicolai von Schweder-Schreiner und der Aufbau Verlag mit der geänderten Wahl von Titel und Zitaten auf das Unheimliche, das Bedrückende, das Zerstörerische, das sich in dem Buch entwickeln wird, hinweisen, so wie es Chigozie Obioma im Englischen mit dem Gedicht auch gemacht hat.
Worum geht es in „Der dunkle Fluss“?
In der Tat schildert in der Ich-Form ein Junge von 9 Jahren, retrospektiv, 20 Jahre später, die brutalen Ereignisse, die seine Familie erschüttern und zerstören werden.
Dabei geht Chigozie Obioma bei der Schilderung des Motivs, der innerlichen und äußeren Gewalt, die die Geschichte durchzieht und vorantreibt, sehr methodisch und chronologisch vor.
Alles beginnt mit dem Satz „Wir waren Fischer“.
Damit entfaltet sich mit wachsender Geschwindigkeit und trotz der Fülle der Details, der poetischen Schilderungen von Naturschauspielen, Wetterveränderungen und metaphorischen Charakterisierungen das Drama der vier Brüder.
Vier Brüder sind es, die kurz auf ein paar Seiten noch ein Leben leben, in dem „alles in Ordnung“ war.
Das Leben scheint sich ruhig in gewohnten Bahnen zu bewegen.
Doch eine Veränderung im immer gleichen Ablauf der Tage und im starren Zeitplan der 4 Brüder bringt das Gleichgewicht dieser Familie zum Einsturz.
Am Ende des Romans ist die Familie erschüttert und zerschmettert und die Leserin, der Leser auch.
Das erste Kapitel gibt den Ton an
Wir werden gleich im ersten Kapitel auf die kommenden Katastrophen vorbereitet.
Sehr schnell leitet Chigozie Obioma uns in die Lebensumstände der Familie ein.
Wir springen hinein.
Benjamin, der Ich-Erzähler, kurz Ben von den Familienmitgliedern genannt, lebt mit seinen 5 Geschwistern in einem Viertel der Stadt, wo sie von ärmeren Familien und sehr armen Menschen umgeben sind. Sie selbst werden als eine reiche Familie von ihrer Umgebung angesehen und sie leben weitgehend abgeschlossen von der Außenwelt.
Der Vater, das autoritäre Oberhaupt der Familie, aus der Ethnie der Igbo, arbeitet für die staatliche Bank Nigerias .
Er ist westlich, streng gläubig und katholisch erzogen.
Alle Familienmitglieder sprechen zuhause mehrere Sprachen, die sie abwechselnd, je nach Anlass, Gesprächspartner:in oder Stimmung einsetzen: Englisch, Igbo und Yoruba.
Die drei Brüder Bens, alle ein paar Jahre älter als er, und er selbst sind die Hauptpersonen, um die es in der Erzählung geht. Es sind Ikenna, der älteste von ihnen und ihre Leitfigur, Boja, der ihm sehr nahe ist, formen das erste Bruderpaar, Obembe und Ben das zweite Bruderpaar.
Die Mutter betreibt einen eigenen Gemüsestand am Markt und kümmert sich um die 2 kleineren Geschwister, die noch von ihr abhängig sind.
Bei der Erziehung der vier Brüder verlässt sich die Mutter auf die Autorität ihres Mannes. Sie ist keine bestimmende Figur im Roman. Der Vater hingegen hat die uneingeschränkte Gewalt über die Familie. Er legt großen Wert auf eine hervorragende Bildung und hat für seine 4 älteren Söhne ihre einzelnen Berufe im Geiste schon festgelegt.
Wenn Regeln, angemessenes Benehmen, wie Höflichkeit gegenüber Nachbarn z. B., oder gute Schulnoten nicht eingehalten werden, bestraft er seine Söhne hart und prügelt sie mit einer Lederpeitsche.
Im Laufe von „Der dunkle Fluss“ sind wir nicht nur mit häuslicher Gewalt konfrontiert, sondern auch mit der Gewalt, die in der nigerianischen Gesellschaft der 90er Jahre vorherrscht: die politische und gesellschaftliche.
Die Familie lebt abgeschottet von der Außenwelt. Draußen aber auf der Straße herrscht Gewalt: Gewalt geht von den Gleichaltrigen der Brüder aus. Sie werden aufgrund des Reichtums der Familie verachtet und verprügelt. Gewalt ist überall, in Form von extremer Armut: Menschen leben und sterben auf der Straße, in Form von Autounfällen mit grässlichen Folgen, Lynchszenen, politischer Unsicherheit und Verfolgung, …
Das Land wird in der Zeit der Erzählung, die 90er Jahre, vom Diktator Sani Abacha mit brutalen Mitteln regiert, und wir erfahren von Pogromen gegen die Igbo und einer Wahlkampagne, in der es viele Tote gibt.
Die weiteren Kapitel
Während wir im ersten Kapitel die Umstände erzählt bekommen, die die drastische Veränderung in der Familie auslöst und wie sie zu den Fischern des Buches wurden, geht es schon ab dem 2. Kapitel, betitelt „Der Fluss“, um die Konsequenzen ihres Handelns.
Die dunklen Konsequenzen ihres Handelns.
Freiheit und Ausbrechen ist es, was die Fischer – diese Bezeichnung wird den Brüdern als eine Art Fluch und gleichzeitig Handlungsanleitung für das Finale – durch den unvorhergesehenen Bruch in der Routine des Familienlebens erfahren:
Freiheit von den starren Strukturen, die ihnen ihr Vater zeitlebens vorgesetzt hat, Ausbruch aus dem vorgegebenen Ablauf der Tage, aus den Vorschriften, aus den Zeitplänen des Vaters, raus aus der geschützten Atmosphäre des Hauses.
Und was machen sie für einen Gebrauch von ihrer neuen Freiheit?
Aus dem Akt der Freiheit heraus, die sie nur kurz als Freude empfinden, spannt sich ein ganzes Netz an fatalen und schließlich auch tödlichen Ereignissen.
Aber nicht sie alleine tragen die Verantwortung für die Entwicklung.
Recht früh, im 3. Kapitel, erscheint die unheimliche Gestalt eines verwahrlosten alten Menschen, Abulu genannt, der auf der Straße lebt. Ein „Verrückter“, wie er vielfach genannt wird, der von den Menschen sowohl verachtet als auch geachtet wird. Seine Prophezeiungen, die er ungefragt ausstößt, scheinen wahr zu werden.
Was die Brüder betrifft, die ihn auf der Straße treffen und ihn als armen Menschen beschimpfen, ist seine Prophezeiung eine sehr gewalttätige.
Zwischen den beiden Brüderpaaren und den Aussagen von Abulu entsteht eine Art Widerpart und eine Dynamik ungeheuerlichen Ausmaßes.
Treiben Aberglaube, selbsterfüllende Prophezeiungen, Angst die Folgen an?
Als einziger Lichtblick in der düsteren, bedrückenden Stimmung und dem atemraubenden Ablauf der Ereignisse erscheint ein Freund des Vaters. Der Studienfreund ist nach Kanada ausgewandert und hat dem Vater versprochen, seine Söhne zu sich zu holen, damit sie eine bessere Ausbildung bekommen.
Bezeichnenderweise kommt diese Erlösung aus der Spirale der Gewalt, und die Leser:in erahnt es gleich, nicht zustande.
Alle weiteren Kapitel sind mit Tiernamen versehen, außer einem, „Der Pilz“, und Chigozie Obioma nutzt diese Bezeichnungen als Charakterisierungen für die Hauptpersonen des jeweiligen Kapitels.
Der Schlusssatz des Buches birgt eine dünne Hoffnung an das Leben, will sich versöhnlich und vielleicht leicht optimistisch geben.
Es ist an dir, Leserin und Leser, das für dich zu entscheiden.
Schlussgedanken
Sind die verschiedenen Personen und Vorkommnisse im Buch eine Parabel für die Geschichte Nigerias nach der Befreiung von Großbritannien im Jahre 1960?
Seine Kolonialgeschichte ist voller Grausamkeiten. Gewalt und Grausamkeit ziehen sich auch in der postkolonialen Geschichte des Landes durch.
Im Buch sind die vier Brüder den Gewalttätigkeiten ihrer Umgebung ausgeliefert.
Im Land Nigeria ist eine große Mehrheit der Bewohner:innen Nigerias bis heute Gewalttätigkeiten und großen ökonomischen Problemen ausgesetzt.
„Der dunkle Fluss“ bringt uns diese Schwierigkeiten des Lebens und Überlebens mit dieser machtvollen, grausamen Geschichte nahe.
Es lässt dich nicht unberührt und du bekommst viel unmittelbarer den Horror der Gewalt mit, als wenn du vielleicht eine ähnliche Darstellung von Gewalt in Form eines Artikels liest.
Artikel geben dir die Möglichkeit, dich von Unangenehmen leicht zu dissoziieren.
In diese Geschichte, so intensiv geschildert, wie es Chigozie Obioma getan hat, tauchst du ein, assoziiert und hoffnungslos ausgeliefert.
Deshalb auch am Anfang meine Warnung.
Christiane Pape
Hier findest du „Der dunkle Fluss“ auf Amazon: https://amzn.to/3Wn5MOS
Hier findest du „The Fishermen“ auf Amazon: https://amzn.to/3WfXloB
HIer findest du „The Fishermen“ als Hörbuch auf Audible: https://amzn.to/4hr3l7x