Corpus Delicti – ein Blick in eine Zukunft, die schon Gegenwart ist
Kaum zu glauben, dass Juli Zeh dieses Buch schon 2009 veröffentlicht hat.
Angesichts der ganzen Maßnahmen, die 2020 im Zusammenhang mit Corona verhängt wurden, und der mächtigen Verschiebung des gesellschaftlichen Diskurses hin zu einem „fürsorglichen“ Staat, der die Kontrolle über das gesundheitliche Wohl der Menschen übernehmen will, läge es nahe, dass die Autorin sich mit ihrem Buch auf das aktuelle Geschehen der letzten Jahre bezieht.
Zugleich öffnet die Lektüre von „Corpus Delicti“ den Blick dafür, dass die derzeitig vorherrschende „Sicherheits“-Politik ihre Wurzeln schon lange vor COVID-19 hat.
Die unerbittliche Kombination von Sicherheit und Kontrolle hat schon vor Jahren begonnen, sich in alle Bereiche des Lebens einzuschleichen – manchmal laut mit einem Rums!, oft schier unmerklich und leise.
Knieschoner für Kids am Roller, immer weiter gehende digitale „Schutz“-Maßnahmen, der „Schutz“ der Grenzen, möglichst viele keimfreie Umgebungen … das Spiel mit dem Risiko über die Verbreitung der Extremsportarten und der gleichzeitige Versuch, es zu kontrollieren, gehen Hand in Hand – obwohl sie doch scheinbar in verschiedene Richtungen ziehen.
Leben ist lebensgefährlich
„Seien wir uns ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich“, erkannte Erich Kästner ganz richtig.
Jeder Wunsch nach Sicherheit, die letztlich immer nur scheinbar unerschütterlich ist, entspringt einer Angst und der Sehnsucht, diese Angst durch immer weiter verschärfte Kontrollen in Schach zu halten.
Dass dieses Konzept nicht fortschrittlich, sondern reaktionär ist, ist logisch. Nur sind die Gesetze der Logik schon lange durch das Diktat der herrschenden Politik außer Kraft gesetzt – es gilt schlicht das Recht des Stärkeren. Das bedeutet, vor der Durchsetzung mit physischer Gewalt kommt die manipulative Macht der (sozialen) Medien.
Die Verantwortung für mögliche Gefährdungen wird sowohl in „Corpus Delicti“ als auch in der „ganz normalen“ Wirklichkeit 2020 dem Einzelnen, der Einzelnen auferlegt. Nachkommen können die Individuen dieser Pflicht genauso wenig, wie sie dem Einfluss des Staates, der in immer weitere Teile des Lebens in bester Tradition des Mikromanagements eingreift, entkommen können.
Die Brutalität der Maßnahmen steigt zwar nicht von ihrem Ausmaß her, sie ist aber geographisch in Europa und den anderen Metropolen angekommen. Anderswo bestimmt die Brutalität schon lange das Geschehen im Alltag.
Immer mehr Menschen, die bislang brav und systemtreu agiert haben, merken, wie ihnen das Fundament ihrer Überzeugungen genommen wird, und reagieren teils mit Verwirrung, teils mit ungestümen Ausbruchsversuchen.
Die Widersprüche, die den Problemen und Herausforderungen tatsächlich zugrunde liegen, werden hinter einem Wirbelwind aus Angstmache und immer strikteren Vorschriften, die nicht infrage gestellt werden dürfen, verborgen.
Dass die ganze Diskussion vor allem ein riesiges Ablenkungsmanöver ist, das von dem Streben nach Macht und Profit ablenken soll, erkennen nur wenige. Dass die bestimmende Angst von oben die Angst vor dem Verlust eben dieser Macht und dieser Profite ist, ist die andere Seite der Medaille.
Das macht auch die Proteste letztlich nicht nur zahnlos, sondern zum Teil des Systems. Die Frage nach den Ursachen wird nicht gestellt.
Weise und Ernüchternd
Nein, ich schreibe keine politische Analyse von Europa im Jahre 2020, ich bespreche ein Buch von Juli Zeh aus 2009. Dass die Autorin virtuos mit der deutschen Sprache umgeht, erhöht den Lesegenuss ungemein.
Das Lesen von „Corpus Delicti“ lohnt sich. Das Öffnen von Augen, Ohren, Mund und Nase auch. Genauso wie das Öffnen von Hirn und Herz.
Ich habe „Corpus Delicti“ als eBook am Kindle gelesen. Du findest es auch als Taschenbuch auf Amazon.